An die Stelle der Vergangenheitsbewältigung ist immer klarer die Vergangenheitsbewahrung getreten. Sie beginnt mit der Einsicht in die Unbeendbarkeit der Schuld und die Irreparabilität des Schadens, für den es keine Wiedergutmachung und Versöhnung gibt - nur die Solidarität in der Erinnerung.

2012: Vortrag: "Das Lager Liebenau"

Am 16.04.2012 hielt Dr. Eleonore Lappin-Eppel vom Centrum für jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz einen Vortrag über das Lager Liebenau und die unfassbaren Ereignisse, die sich in dieser Zeit in Graz zutrugen. Eine Zusammenfassung des Vortrags finden Sie unter den weiterführenden Informationen.

Zusammenfassung des Vortrags:

Überaus großes Interesse bekundete die Grazer und speziell die Liebenauer Bevölkerung für die Veranstaltung zu den jüdischen Todesmärschen in der Steiermark, standen diese doch in enger Verbindung zu einem dunklen Kapitel der Liebenauer Geschichte: im Jahr 1944 waren ungarische Jüdinnen und Juden, die man zuvor für den Bau des sogenannten Südostwalls „verbraucht“ hatte, nach Graz getrieben worden, wo sie vor den Liebenauer Zwangsarbeiterlagern lagern mussten.

Kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Basis für Arbeit mit Menschen

Rainer Possert, Arzt und Obmann des SMZ Liebenau erklärte zu Beginn der Veranstaltung die Beweggründe des SMZ, eine derartige Veranstaltung durchzuführen: „Die Auseinandersetzung mi den nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere mit den Ergebnissen des Nürnberger Ärzteprozesses standen am Beginn unseres Studiums und förderten unsere kritische Haltung hinsichtlich des damaligen Medizinsystems. Außerdem sind wir seit Beginn unserer ärztlichen und psychotherapeutischen Tätigkeit mit den Lebensgeschichten von Tätern und Opfern konfrontiert wie z.B. Kriegstraumatisierungen und Naziverbrechen in der Familie. Seit 30 Jahren arbeiten wir nun in Liebenau und betreiben hier auch Gesundheitsförderung im Setting Bezirk und engagieren uns für die Barackensiedlung am Grünanger. In diesem Zusammenhang ist es uns wichtig, das Gebiet, in dem wir tätig sind, auch historisch näher zu beleuchten und die Hintergründe zu erforschen.“

Possert zitierte anschließend aus einem Brief eines israelischen Arztes, der im Zuge der Veranstaltungsankündigung an das SMZ geschrieben hatte: „[…] eine Studienkollegin aus alten Zeiten hat mir vor einigen Tagen die Einladung zum Vortrag von Frau Dr. Eleonore Lappin-Eppel  vom kommenden Montag, gesendet. Ich muss gestehen, dass ich das Blatt bestürzt und entsetzt gelesen habe. Sie können sich vielleicht meine Gefühle vorstellen, als Holocaustüberlebender plötzlich zu erfahren, dass ich Anfang der sechziger Jahre während 3 Jahren in einen Hochhaus in der Kasernstrasse gewohnt habe, einige Zehnmeter vom früheren Lager entfernt, wo meine Glaubensbrüder in den finsteren Jahren umgebracht wurden. Und ich habe bis heute nichts davon gewusst. Graz ist für mich ein Ort von großer Bedeutung und hat in meiner beruflichen und persönlichen Geschichte  eine wichtige Rolle gespielt. So bin ich der Stadt verbunden geblieben, habe noch mehrere alte Freunde und Kollegen und in den letzten Jahren pflege ich  jeden Sommer 2-3 Wochen bei Freunden in Graz zu verbringen. Ich bedauere sehr, dem Vortrag nächste Woche nicht beiwohnen zu können und wäre sehr dankbar, wenn Sie mir eine Abschrift des Vortrags senden könnten.“

Verbrechen vor der Haustür

Eleonore Lappin-Eppel, derzeit Mitarbeiterin der Akademie der Wissenschaften in Wien und des Centrums für jüdische Studien in Graz, verfolgte mit ihrem Vortrag die Intention, die Verbrechen rund um die jüdischen Zwangsarbeiter in der Steiermark in einen größeren historischen Kontext zu setzen. Die Verbrechen um 1944 wurden vielfach als „Endphasen-Verbrechen“ bezeichnet, eine Beschreibung, die nach Lappin-Eppel nicht ganz zutreffend ist: bei Hitlerjugend, Gendarmerie und Volkssturm kam es wohl zu Gewaltexzessen, die unter anderen Umständen vermutlich nicht passiert wären. Die Waffen-SS jedoch war eine wichtige Tätergruppe, die als eingeschulte Mordtruppe bereits seit Jahren aktiv war. Neu an dieser „Endphase“ war, dass der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen bis vor die Haustüre der Menschen in der Steiermark gekommen war.

Dies bestätigte auch eine anwesende Zeitzeugin: „Mitten im Murfeld war auch ein Lager. Ich habe mich mit einem jüdischen Mädchen befreunde und wir haben oft zusammen gespielt. Ein jüdischer Bub aus dem Lager wurde von Nachbarn versteckt, später gefunden und vor meinen Augen erschossen. Dann wurden alle Juden von einem LKW abgeholt. Diese Bilder beschäftigen mich bis heute ständig. Und ich möchte auch wissen, wer diese Jüdinnen und Juden waren!“ Lappin-Eppel meinte, sie könne darüber nur Vermutungen anstellen: Da laut Angabe der Zeitzeugin auch Frauen und ein Säugling dabei waren, müsse es sich um Sommerarbeiter gehandelt haben. Diese seien im Juli in die Lager gekommen und hätten etwas mehr Bewegungsfreiheit gehabt.

Die Murauen waren von Bunkern durchzogen, in denen die Kinder damals spielten.  Es war jedoch schon den Kindern bekannt, dass man am Grünanger nicht spielen sollte, da dort das „große Grauen“ herrsche und man Menschen erschossen habe.

Auf die Frage aus dem Publikum, warum den Helfern nichts passiert sei, erwiderte Lappin-Eppel, dass in der Endphase die HelferInnen nicht mehr bestraft, wohl aber bedroht worden waren, damit sie die verseckten Juden preisgaben. Für Prozesse oder Bestrafungsrituale blieb keine Zeit mehr.

Im „Lager Liebenau“ wurden hauptsächlich ungarische Juden zusammengetrieben. Ungarn war bis 1944 „ein seltsamer Hort der Sicherheit für »seine« Juden“, so Lappin-Eppel. Ab 1944 sollten jedoch 800.000 Menschen, die als Juden galten, durch das Sonderkommando unter Adolf Eichmann methodisch vernichtet werden. Von 5. Mai bis 9. Juli 1944 wurden 430.000 Juden deportiert, größtenteils nach Auschwitz.

Ab Herbst 1944 wurde in Österreich am sogenannten Südostwall gebaut. Neben ZivilistInnen und der Hitlerjugend arbeiten auch jüdische Zwangsarbeiter mit. Insgesamt waren ca. 80.000 ungarische Jüdinnen und Juden in der Zeit von November bis Dezember 1944 als billige Arbeitssklaven für die deutsche Rüstungsindustrie und für die Gauleitung in Niederdonau und Steiermark „verliehen“ worden, die Hälfte von ihnen wurde bereits auf dem Weg ins KZ deportiert. Die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz stand zu diesem Zeitpunkt allerdings schon still und so wurde der Arbeitseinsatz von Juden dazu benützt, sie zu vernichten. Viele der insgesamt ca. 8000 Juden, die zum Arbeitseinsatz in die Steiermark gebracht worden waren, waren bereits vor ihren unmenschlich langen Fußmärschen ohne adäquate Versorgung und Verpflegung in miserabler körperlicher Verfassung. Die Unterkünfte und die Verpflegung am Bau taten dann ihr Übriges: durch Krankheiten und Hunger geschwächt wurden die Juden umso brutaler behandelt, damit man noch Arbeitskraft aus ihnen „herauspressen“ konnte. Den Wachmannschafen sagte man zynischer Weise nicht: „tötet die Juden!“, sondern: „jüdisches Leben hat keinen Wert, ihr müsst sie einfach dazu bringen, zu arbeiten!“

Lappin-Eppel nahm auch kurz Bezug auf den Fall Rechnitz: Im März 1945 kamen 1000 jüdische ArbeiterInnen aus Köszeg mit dem Zug in Burg an, um entweder in Rechnitz zu arbeiten oder zu Fuß in südlichere Lager weitregeleitet zu werden. Unter diesen waren ca. 200 nicht-marschfähige Personen, welche in Rechnitz von Gästen eines rauschenden Abschiedsfestes der Stellungsbauprominenz ermordet wurden. Das Fest im Schloss Rechnitz  ging danach weiter und die Juden wurden erst am nächsten Tag bestattet. Das Grab konnte allerdings bis heute nicht entdeckt werden und die ganze Gemeinde schweigt seit Jahrzehnten dazu.

Die Prozesse

Die Prozesse nach Kriegsende wurden durch die Tatsache begünstigt, dass aufgrund der Rückzugsmärsche sehr viele Menschen auf den Straßen unterwegs waren und man so zahlreiche Zeugen für die Morde an Juden finden konnte.

Die Prozesse der Volksgerichte waren zum Teil sehr streng in ihren Urteilen, lange Gefängnisstrafen und Todesurteile wurden verhäng. Ab den 1950er Jahren führte man allerdings viele Amnestien durch, oft mit der einfachen Begründung, dass „Weihnachten sei“.  Dies war auch ein Signal an die österreichische Bevölkerung, um sie in ihrer „Opferrolle“ zu bestätigen!

Die britische Militärregierung führte Musterprozesse durch, wo man zwar die Rechte der Angeklagten wahrte und Lektionen in Demokratie erteilte, jedoch wesentlich rigidere Urteile verhängte als in den österreichischen Volksgerichten. So wurden z.B. 5 Kreisleiter zum Tode verurteilt.

Die Grazer Morde und das Lager Liebenau

Anfang April 1945 erreichten die jüdischen „Arbeitstransporte“ die Grenze von Graz. Die Juden wurden auf die so genannten „Ausländerlager“ Andritz, Wetzelsdorf und Liebenau aufgeteilt. In diesen Lagern waren zuvor osteuropäische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene interniert gewesen, die zur Zwangsarbeit in der Grazer Rüstungsindustrie verpflichtet worden waren. Die Juden mussten bei kühlem, feuchtem Frühlingswetter vor den Lagern im Freien übernachten, wurden jedoch von der Lagerküche verpflegt. Der Aufenthalt in Graz diente dazu, neue Transporte zusammenzustellen, die dann in Richtung Obersteiermark in Marsch gesetzt wurden. Die „Rast“ in Graz wurde ebenfalls dazu benützt, Selektionen durchzuführen. Jene Juden, die in besonders schlechtem Zustand waren, wurden zurückgelassen und ermordet. Im Wetzelsdorfer Lager entdeckte man später die Überreste von 15 ungarischen Juden, man geht aber davon aus, dass die Zahl der Opfer wesentlich höher war.

Bereits im Mai 1947 berichteten mehrere Zeitungen über die Morde in Graz-Liebenau. Im Mai 1947 schrieben die beiden Grazer Zeitungen Wahrheit und Österreichische Volksstimme von 150 Opfern. Bei den Exhumierungen im Mai wurden 30 Leichen entdeckt, bis Juni hatte man insgesamt 53 Opfer gefunden, darunter auch die Leichen von drei Säuglingen. Der Zuständige für die Grazer Ausländerlager, Nikolaus Pichler, und der Leiter des Lagers Graz-Liebenau, Alois Frühwirth, hatten bei dem Verfahren der britischen Militärregierung angegeben, es hätte Fleckfieberverdacht unter den Gefangenen gegeben, daher hatte man die Erschöpften und kranken erschossen. Es wurde jedoch im Rahmen des Verfahrens bekannt, dass das Lager Liebenau über genügend Medikamente verfügte, Pichler jedoch verboten hatte, diese den Juden zu verabreichen. Er forderte dagegen den Sanitäter des Lagers, Hans Fugger, dazu auf, die Kranken mittels Morphiumspritzen zu liquidieren. Dieser weigerte sich jedoch und so wurden die Erschöpften und Ausgehungerten durch Mordkommandos des Werkschutzes in mehreren Aktionen erschossen.

Pichler und Frühwirth führten ein Terrorregime im Lager Liebenau: Obwohl die Lagerbaracken leer standen, mussten die Juden vor den Lagern übernachten und wurden bei einem Versuch, Decken aus einer Baracke zu holen, wegen Plünderung erschossen. Die tägliche Verpflegung bestand aus wässriger Suppe und einer Scheibe Brot. Frühwirth und Pichler wurden im September 1947 wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Liebenauer Prozesse stießen auf sehr großes Interesse auf Seiten der Bevölkerung, vor allem viele Gegner des NS-Regimes befanden sich im Publikum. Zu kritisieren wäre allerdings, dass die eigentlichen Befehlsgeber, die hinter Pichler und Frühwirth standen, nie vor Gericht gestellt wurden und man somit der Befehlskette nie wirklich nachgegangen war.

Wir viele Opfer nun tatsächlich im Lager Liebenau erschossen wurden, kann man nicht mehr genau nachvollziehen. Die Briten gingen zwar bei der Exhumierung sehr sorgfältig vor, es könnte allerdings sein, dass ihnen die erste Zahl der Entdeckten bereits für die Verurteilungen reichten. Die Grazer Zeitschrift Wahrheit sah sich als Aufdecker-Zeitung der NS-Verbrechen und schrieb von 150 Opfern in Liebenau, war jedoch in der Angabe ihrer Zahlen nicht immer ganz seriös.

Das Massaker am Präbichl

Im April 1945 wurden ca. 6.000 Personen aus den Grazer Lagern zu Fuß in Richtung Bruck/ Mur in Marsch gesetzt, erhielten aber erst in Trofaiach eine Verpflegung. Neun Personen verhungerten bereits in der ersten Nacht. Hinter Trofaiach ging die Strecke bergauf, was viele der erschöpften Juden nicht überlebten: Sie brachen zusammen oder wurden von der Wachmannschaft erschossen. Unter dem Präbichl Pass übernahm der Eisenerzer Volkssturm die Bewachung, woraus es zu einer wilden und wahllosen Schießerei mitten in den Transport kam, die eine halbe bis eine dreiviertel Stunde dauerte. Als der Transportleiter die Schießerei schließlich beenden konnte, waren 200 Menschen ermordet worden. Der Eisenerzer Kommandant der Wachmannschaften, Ludwig Krenn, hatte die Schießerei befohlen und damit gegen die Anordnungen bei Todesmärschen verstoßen. Krenn wurde daher auf Anordnung des Transportleiters festgenommen, jedoch auf Intervention des Kreisleiters von Leoben, Otto Christandl, wieder freigelassen. Kristandl wurde jedoch später von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, was jedoch von der Zivilbevölkerung überhaupt nicht verstanden wurde, da „der Kristandl ja nichts für das Massaker könne“. Die weitaus milderen österreichischen Volksgerichte leisteten jedoch durch die Duldung und Nicht-Verurteilung der Mörder Mithilfe an den NS-Verbrechen!

Diskussionsbeiträge aus dem Publikum

Auf die Frage, ob die aufklärerischen Zeitungen auch Quellen für ihre Zahlenangaben nannten, antwortete Lappin-Eppel, dass lediglich Menschen befragt worden waren, die die Massaker beobachtet hatten. Wahrscheinlich ist auch, dass die Reporter mit Bestattern gesprochen hatten.

Gustav Mittelbach wies darauf hin, dass es ziemlich genaue Zahlen darüber gab, wie viele Juden in Graz angekommen waren und wie viele Graz wieder verlassen hatten.

Auf die Frage, ob es auch Prozesse gegen die Waffen-SS-ler gegeben hatte, wies Lappin-Epel darauf hin, dass diese auf ihrem Durchzug durch die Steiermark kaum gesehen worden waren und man sie ja auch nicht kannte. Auch die britische Militärregierung hatte sich nur für die Österreicher interessiert. Etliche holländische Waffen-SS-ler konnten dadurch entkommen.

In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass es auch im Süden von Graz Mutige gegeben habe, die Juden versteckt und ihnen somit das Leben gerettet hätten: der Bürgermeister von Thondorf z.B. konnte viele junge Juden retten, indem er sie als Internatszöglinge ausgab.

Gustav Mittelbach wollte noch wissen, was mit den Gräbern all jener Zwangsarbeitern passiert war, deren Zahl ja so groß war wie die der Liebenauer Bevölkerung. Lauf Information aus dem Publikum waren diese alle registriert und am Zentralfriedhof in Massengräbern begraben worden. Auch in den Spitälern hatte es eine eigene „Ostarbeiter-Abteilung“ gegeben.

Rainer Possert wies darauf hin, dass in Liebenau bis heute nicht über die Prozesse und die Leichen gesprochen werde. Wenn er ältere Patienten dazu befrage, herrsche Schweigen. Lappin-Eppel bestätigt dies und verweist auch auf das bemerkenswerte Schweigen der Retter und Helfer. Die Briten hätten z.B. auch Überlebende der Zwangsmärsche befragen wollen, doch diese versuchten, auf dem schnellsten Weg aus Österreich wegzukommen und in die USA oder nach Israel auszuwandern. Sie wollten keine Zeit mehr für Prozesse vergeuden.

Eine Zeitzeugin, die damals in Liebenau an der Mur lebte, berichtete, dass auch in der Dr. Renner Schule niemals die aktuelle Geschichte aufgearbeitet worden war. Die Lehrer waren zum Großteil noch Nazis, die sie als blondes und blauäugiges Mädchen wegen ihres „arischen Aussehens“ lobten. Über die NS-Zeit sei sie erst in England aufgeklärt worden, wo man ihr nicht glauben wollte, dass sie von nichts gewusst habe.

Weitere Informationen unter:

Dr. Eleonore Lappin-Eppel: Die Todesmärsche ungarischer Juden durch die Steiermark 

 

 

14. Februar 2017