An die Stelle der Vergangenheitsbewältigung ist immer klarer die Vergangenheitsbewahrung getreten. Sie beginnt mit der Einsicht in die Unbeendbarkeit der Schuld und die Irreparabilität des Schadens, für den es keine Wiedergutmachung und Versöhnung gibt - nur die Solidarität in der Erinnerung.

2016: Gedenkveranstaltung: "71 Jahre nach dem Holocaust in Liebenau" und Gedenkkonzert mit Paul Gulda

Gedenkveranstaltung 2016 - 71 Jahre nach dem Holocaust in Liebenau und Gedenkkonzert mit Paul Gulda - Zusammenfassung von Uschi Possert-Lukas

„Sie bringen mit Ihrer Anwesenheit das Mitgefühl mit den Opfern im ehemaligen Lager Liebenau zum Ausdruck und setzen auch ein öffentliches Zeichen gegen den wieder um sich greifenden Antisemitismus und Rassismus!“ begrüßt Dr. Rainer Possert die rund 150 TeilnehmerInnen der vierten SMZ-Gedenkfeier am 9. April 2016 am Grünanger anlässlich des Holocaust in Graz-Liebenau 1945. Das SMZ-Team enthüllt zudem seine Gedenktafel als Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus.

In seiner Ansprache weist der Obmann des Sozialmedizinischen Zentrums darauf hin, dass Graz die Organisationszentrale für den Todesmarsch der ungarischen Juden 1945 über das Burgenland, die Steiermark nach Mauthausen und somit für den steirischen Holocaust darstellte. Am 4. April 1945 – also noch in den letzten Kriegswochen – verließen an die 6000 Jüdinnen und Juden Graz Richtung Mauthausen, am 7. April waren es noch 1200 Menschen, die, erkrankt an Typhus, erschöpft, ausgehungert und ohne ärztliche Versorgung vom Lager Liebenau über die Stubalpe losgeschickt wurden. „Fakt ist auch , dass zwischen 100 und 200 JüdInnen am 28. April vom Lager Liebenau nach Wetzelsdorf transportiert und dort ermordet wurden. In einer Grube an der Mur,“zitiert Possert Univ.Prof. Dr. Claudia Theune- Vogt von der Universität Wien, Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie, „seien weitere 60 Menschen umgebracht worden, 48 nahe eines Luftschutzkellers und kleinere Menschengruppen in Schottergruben und Bombentrichtern in und um das Lager Liebenau.“

53 Opfer am Grünanger konnten 1947 exhumiert werden, davon 34 mit tödlichen Schusswunden. 1992 stieß man beim Bau des Kindergartens in der Andersengasse auf die Gebeine zweier weiterer Opfer. Dieser Fund wurde der Öffentlichkeit von der Stadt Graz verheimlicht, man verzichtete auf den geplanten Kelleraushub für das Gebäude.

FURCHTBARE „ENDZEITVERBECHEN“

Univ. Prof. Dr. Helmut Konrad, Institut für Zeitgeschichte an der Universität Graz, verwies in seiner berührenden Gedenkansprache auf die Ungeheuerlichkeiten der Morde an Jüdinnen und Juden noch in den letzten Kriegstagen. „Ein überaus tragischer Umstand, den wir HistorikerInnen „Endzeitverbrechen“ nennen. Bedenken Sie: Am 27. April 1945 wird in Wien die Zweite Republik Österreich ausgerufen. Und immer noch finden hier im Lager Liebenau Ermordungen statt! In etwas mehr als einem Monat nach dem Einmarsch der Russen sind auf österreichischem Boden 82 280 Menschen den so genannten „Endzeitverbrechen“ des Nationalsozialimus zum Opfer gefallen! Es war eine Explosion der Gewalt in diesen letzten Wochen des Regimes, das alle Brutalität noch einmal zum Vorschein bringt, obwohl schon alles verloren war,“ sagt Konrad, „und Liebenau ist ein symbolischer Ort für diese Grausamkeiten!“ Es brauche ausdauernde und durchsetzungsfähige Menschen wie Rainer Possert, so der Historiker, um diese furchtbaren Geschehnisse aufzuzeigen. „Denn oft sind es Privatpersonen – wie in Gratkorn auch – die auf neue Erkenntnisse in der Zeitgeschichte stoßen, weil sie sich für die Geschichte ihres Ortes interessieren, die uns, wie auch hier im ehemaligen Lager Liebenau nahe geht!“ „Seien Sie alle auch heute noch wachsam! Zeitgeschichte lebt von den Erinnerungen unserer Großeltern- und Elterngeneration. Schreiben Sie alles auf, und geben Sie die Erzählungen weiter, die Sie über diese Zeit erfahren, um die schrecklichen Ereignisse nicht aus dem kollektiven Gedächtnis zu entlassen!“ appelliert Univ. Prof. Helmut Konrad an die ZuhörerInnen.

SOLIDARITÄT UND EMPATHIE

Mag. Joachim Hainzl, steirische Stimme des Mauthausen-Komitees Österreich, verweist in seiner Rede auf zwei wichtige Begriffe: „Solidarität“ und „Empathie.“ „Um solidarisch handeln zu können, muss auch Empathie da sein,“ so Hainzl, „also Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Situation des Anderen. Es braucht – wie hier im ehemaligen Lager Liebenau – engagierte Menschen, die nun für die Opfer sprechen und eine Gedenktafel initiieren. Gedenkorte sind wesentlich für unsere Zukunft – Erinnerungen dürfen nicht ausgelöscht werden! Wir haben jetzt die zweite Chance, solidarisch und empathisch zu handeln in unserer Demokratie,“ ruft er auf und spricht die aktuelle Flüchtlingssituation an, „damals, während der Nazidiktatur war das nur schwer möglich!“

NIE WIEDER VERGESSEN

Im Namen des Grazer Bürgermeisters spricht Gemeinderat Mag. Andreas Molnar den Dank an das SMZ aus. „Nicht vergessen ist auch für mich als Obmann des Grazer Ungarischen Vereins ganz wichtig. Auch jene ungarischen Juden und Jüdinnen, die hier in den letzten Kriegstagen ihr Ende gefunden haben, haben nun eine Gedenktafel. Ohne das Team des SMZ wäre diese Tafel und damit das Erinnern an die grausamen Ereignisse nicht möglich gewesen. Keiner in Graz würde mehr darüber sprechen!“

DER HOLOCAUST ALS SCHLIMMSTES VERBRECHEN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE

Zum Abschluss des Gedenkens in der Andersengasse begrüßt HR Dr. Heinz AnDerwald von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien die Gäste mit „Shalom.“ „Die jüdische Geschichte ist eine Geschichte der Verfolgung,“ holt er aus.„Zur Zeit Jesu betrug die Weltbevölkerung 300 Mill., davon vier Mill. Juden. Im Jahr 1000 sank die Zahl der Weltjudenheit auf Grund der Christianisierung und der antisemitischen Konzilsentscheidungen auf höchstens eine Million – und das bei 310 Mill. Menschen auf der Erde. 1938 sprechen wir von 3,2 Mrd. Menschen und 18 Mill. Juden. Durch den Holocaust, hebräisch „Shoa“ wurden 60 bis 65% der europäischen Juden ermordet. Heute gibt es nicht annähernd so viele Juden wie vor dem zweiten Weltkrieg!“ Der Holocaust sei zweifelsohne das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte und ein beinahe gelungener Genozid an den europäischen Juden, sagt Anderwald. „Gerade dort, wo der Mensch keine Schuld hat, trägt er Verantwortung!“ zitiert Anderwald den jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas. „Mir ist wichtig an dieser Stelle zu sagen, das jüdische Volk lebt und ist nicht erloschen! In diesem Sinne gedenken wir hier der jüdischen Ermordeten in würdiger Form.“ Heinz Anderwald spricht das jüdische Totengebet für die Opfer des Holocaust in hebräischer und deutscher Sprache. „ ... sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden. Und sie mögen wiedererstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage. Amen!“

GEDENKKONZERT – GULDA SPIELT BACH

Der Pianist Paul Gulda, der sich fast 25 Jahre in der burgenländischen Gedenk-Initiative Re.fugius für die Aufklärung der NS-Verbrechen in Rechnitz engagiert, lässt  diesen 9. April 2016 mit einem stimmigen Cembalokonzert in der Kirche der Pfarre Graz-Süd ausklingen. Zu J. S. Bach, aus dem Wohltemperierten Klavier, Bd. I zitiert Gulda immer wieder aus den Erzählungen der Chassidim von Martin Buber. Pfarrer Mag. Alois Sosteric lädt zudem HR Dr. Heinz Anderwald von der Israeltischen Kultusgemeinde Wien ein, nochmals das jüdische Totengebet – diesmal in der christlichen Kirche – zu sprechen.

Das SMZ bedankt sich mit einer Agape in der Kirche bei den rund 200 Konzertbesuchern: Mit Brot und Wein unterhalten sich viele bis spät in die Nacht, und es werden bereits erste Anregungen für die Gedenkfeier 2017 gegeben.

„Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, aber eine dreifache Schnur reißt nicht so leicht entzwei!“ Zitat Paul Gulda, „Aus den Erzählungen des Chassidim“ von Martin Buber.

 

14. Februar 2017