An die Stelle der Vergangenheitsbewältigung ist immer klarer die Vergangenheitsbewahrung getreten. Sie beginnt mit der Einsicht in die Unbeendbarkeit der Schuld und die Irreparabilität des Schadens, für den es keine Wiedergutmachung und Versöhnung gibt - nur die Solidarität in der Erinnerung.

„ENDZEITVERBRECHEN“ im Lager Liebenau und das lange Schweigen

„Es war eine Explosion der Gewalt in den letzten Wochen des Regimes, das alle Brutalität noch einmal zum Vorschein bringt, obwohl schon alles verloren war. Und Liebenau ist ein symbolischer Ort für diese Grausamkeiten!“ betont der Grazer Zeithistoriker Helmut Konrad bei unserer Gedenkfeier 2016. „Bereits am 27. April 1945 wird in Wien die Zweite Republik ausgerufen und immer noch finden im Lager Liebenau Ermordungen statt,…“

„Es war eine Explosion der Gewalt in den letzten Wochen des Regimes, das alle Brutalität noch einmal zum Vorschein bringt, obwohl schon alles verloren war. Und Liebenau ist ein symbolischer Ort für diese Grausamkeiten!“ betont der Grazer Zeithistoriker Helmut Konrad bei unserer Gedenkfeier 2016. „Bereits am 27. April 1945 wird in Wien die Zweite Republik ausgerufen und immer noch finden im Lager Liebenau Ermordungen statt,…“

 

 

Der Todesmarsch der ungarischen JüdInnen 1945 hat eine „Blutspur“ vom Burgenland durch die Oststeiermark nach Graz und weiter über den Präbichl nach Mauthausen gezogen.

Graz war Drehscheibe und Befehlszentrale für die grausamen Geschehnisse.  Von hier aus bis ins burgenländische Rechnitz wurden die Befehle zur Exekution arbeitsunfähiger ZwangsarbeiterInnen gegeben - vertreten durch Gauleiter Sigfried Überreiter und seinem Stellvertreter Tobias Portschy. 

 

An die 8000 verhungernde, fiebernde und an Typhus erkrankte Juden und Jüdinnen wurden von SS und Volkssturm im Frühjahr 1945 durch Graz getrieben. Am 1/2. April 1945 erreichten die ersten ungarischen JüdInnen das Lager Liebenau, gleich nach ihrer Ankunft kam es, so Univ. Prof. Dr. Claudia Theune Vogt, Univ. Wien, bei einem Vortrag 2015 in Graz,

zu ersten Ermordungen. Sie spricht von weiteren 100-200 Ermordeten in der SS Kaserne Wetzelsdorf, (wohin die ZwangsarbeiterInnen aus Liebenau verbracht wurden), von ca. 60 Erschießungen in einer Grube an der Mur, 46 Ermordeten in der Nähe eines Luftschutzkellers, weiteren Erschießungen in kleineren Gruppen und zahlreichen Todesfällen in Folge von Erschöpfung und Krankheit. Der größte Transport, rund 7000 Menschen, verließ Graz am 4. April 1945, der letzte am 28. April.

 

53 Opfer konnten 1947 im Lager Liebenau exhumiert werden, 35 von ihnen wiesen tödliche Schusswunden auf. 

Der Vorsitzende des Liebenauer Prozesses von 1947, Sir Douglas Young, sprach von „Vielen“, die dort unter der Erde lägen.

Drei Personen des Liebenauer Mordkommandos wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, Mitwisser (VertreterInnen steirischer NS-Behörden, SS und Werkschutz des Puch Werkes) blieben von der Justiz verschont.

 

Wie viele Opfer noch heute am Grünanger unter der Erde liegen, ist nicht bekannt. Für die Archäologen wäre es ein Leichtes, die Opfer zu finden, so Archäologe Gerald Fuchs im Interview mit dem ORF Steiermark am 11. August 2017: „Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis man diese Plätze findet. Die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und einigen Hundert - wie viele wirklich dort liegen, weiß kein Mensch.“

 

1991 finden Bauarbeiter beim Neubau des Kindergartens in der Andersengasse zwei weitere Opfer, die auch gerichtsmedizinisch obduziert werden. Alles läuft unter strenger Verschwiegenheit ab. Wohin die sterblichen Überreste danach verbracht worden sind, lässt sich bis heute nicht eruieren. Die geplanten Kellerräume für den Kindergarten sind daraufhin nicht mehr errichtet worden,… 

 

Die Grazer Stadtregierung verweigert bis heute - trotz archäologischer Begleitung und Ausgrabungen 2017 beim Bau des Murkraftwerkes - weitere Untersuchungen, obwohl man in einem Bunkergang (mittlerweile denkmalgeschützte) Graffiti von ZwangsarbeiterInnen und offensichtlich auch von ukrainischem Wachpersonal gefunden hat - in ihrer Wertigkeit, laut Archäologen, europaweit einzigartige Funde! 

Über den Bunkeranlagen hat man das neue WIKI-Jugendzentrum errichtet, selbst ein geplanter Zugang zu den Graffiti im Bunker wurde durch eine Asphaltdecke verschlossen. Der archäologische Abschlussbericht liegt unter Verschluss der Stadt Graz und ist nicht öffentlich zugänglich.

 

Die ersten Fotos aus einem vermuteten Nazikeller in der Andersengasse 32-34 überhaupt stammen vom Liebenauer Mediziner Dr. Rainer Possert aus dem Jahr 2012, der nach dieser „Entdeckung“ das Bundesdenkmalamt und HistorikerInnen informiert. 

Bauakte zum Gebäude in der Andersengasse 32-34 tauchen erst im Zusammenhang mit der Unterschutzstellung des nahezu vollständig erhaltenen Nazi-Kellers durch das Bundesdenkmalamt 2016 auf.

Artefakte wie:

eine typische NS-Luftschutztüre, 

eine Waschküche, 

die in eine Kellerwand geritzten Wörter - „Paris Seine“ und 

ein gezeichneter Kopf, der eine so genannte „phrygische“ Mütze trägt, führen schließlich 2016 zum Denkmalschutz des Kellers.

 

Paul Mitchell, Historiker, Bauforscher und Archäologe, beruft sich in seinem Gutachten in diesem Zusammenhang auf die „Marianne,“ jene Freiheitsfigur nach der französischen Revolution 1789, die später auch zum Symbol des französischen Widerstandes gegen die Nazis wurde.

Mitchell: “Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Urheber von Inschrift und Zeichnung von französischen Zwangsarbeitern bzw. Kriegsgefangenen stammen.“ 

Leider kümmert sich niemand von offizieller Seite der Stadt Graz um diese Artefakte, der denkmalgeschützte Keller wird als Abstellraum von BewohnerInnen des Gemeindebaus benützt, Zeichnung und Inschriften sind dem Verfall und der Zerstörung überlassen

 

 

Zwangsabtreibungen und grausame medizinische Versuche an Frauen auch im Lager Liebenau

 

Wir erinnern auch an die Frauen im Lager Liebenau, an denen sowohl im Lager als auch in der Grazer Frauenklinik Zwangsabtreibungen vorgenommen wurden. Sie waren zudem grausamen medizinischen Experimenten ausgesetzt, wie Dr.phil. Gabriele Czarnowski vom Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Medizinische Universität Graz, nun auch im neuen Historischen Jahrbuch (2018) der Stadt Graz veröffentlicht. 

Ambulanzbücher der Universitätsfrauenklinik bestätigen solche Experimente, z. B. an Olga O., 18 Jahre alt. 

Sie war eine von 85 jungen Schwangeren im Feber 1944, an denen Klinikchef Karl Ehrhardt den so genannten „Schuchardtschnitt“ durchführte - einen tiefen Scheiden- Damm- und Beckenbodenschnitt, der ganze Nervenstränge durchtrennte. Ehrhardt, der diese chirurgische Technik nur mangelhaft beherrschte, „übte“ diesen Schnitt an Frauen aus dem Lager Liebenau.

Die „Abteilung Gesundheit“ ist im Lager Liebenau durch einen eigenen Stempel auf den Überweisungsscheinen in den Ambulanzbüchern nachgewiesen. Dort finden sich die Unterschriften der Lagerärzte Dr.med. Karl Müller und Dr.med. Otto Stockhammer.

Müller scheint in den Ambulanzbüchern nicht nur als Lagerarzt auf, sondern auch als Betriebsarzt der Steyr Daimler Puch-AG, Werk Graz.

1930 war Müller zudem Mitglied im Deutschen Turnerbund und Steirischen Heimatschutz (Richtung Kammerhofer), Mitglied der NSDAP (Nr. 6.264.227), illegal bei der SA und ab Feber 1938 bei der SS. Von ihm existiert auch eine zeitgenössische Personenbeschreibung [Olga M, TNA]: „Größe 5 Fuß 7 (5‘7‘‘), blondes Haar, blaue Augen, schmales Gesicht, ausgeprägtes Kinn, Alter ungefähr 33 oder 34 Jahre. Lebte in Graz mit Frau und Kindern.“

 

Von wegen „nichts gewusst!“

 

Bei den archäologischen Grabungen im Zuge des Murkraftwerkbaus 2017 stellt sich heraus, dass es in der Nachkriegszeit (ab den 1960ger Jahren) großräumige Bauarbeiten der Stadt Graz im Lagerbereich gegeben hat:

 

• 1966 wurde ein 1945 verfüllter Bombentrichter in der Fiziastrasse geöffnet,

 

• Sportanlagen (Tennisplätze und Sportschießanlage) für Magistratsbedienstete hatte man auf vermuteten Mordstätten errichtet.

 

• In den 70erJahren kam es zu einer Großgrabung beim Bau des breiten Sammelkanals (20m), bei der man auf Bunkeranlagen stieß und auch ein 1945 verfüllter Bombentrichter ausgegraben wurde. 

 

• In den 70er Jahren wurden weitere Betondecken von Bunkern und Laufgräben zerstört und abgetragen.

 

• 1991 hat die Stadt Graz der Öffentlichkeit zwei Opferfunde beim Kindergarten verschwiegen. Die Bauakten des Gebäudes, bei dem nach dem Fund auf die geplanten Keller verzichtet wurde, sind bis heute nicht auffindbar.

Es stellt sich die Frage: Liegen hier noch weitere Opfer vergraben?

 

• 2006 wurde ein ökosozialer Wohnbau am Grünanger errichtet, auch damals müssten die Bauarbeiter auf Bunkerfundamente des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers gestoßen sein.

 

Haben das alle Beteiligten hingenommen, geschwiegen? Warum hat niemand nachgefragt? 

Fast 70 Jahre des Verschweigens mussten vergehen, um Licht auf dieses dunkle Kapitel der Grazer NS-Geschichte zu werfen,…

12. März 2018